Wer du mal warst, bist du nicht mehr. Auf die Frage, wann Hélène gestorben und du - Lennja, seit du mit deinen Schwestern einige Jahre in Nordeuropa und Russland verbracht hast - geboren wurdest, würdest du antworten: hm, tja, keine Ahnung - wie soll überhaupt jemand sterben, der nie richtig gelebt hat? Ungewohnt tiefsinnig und philosophisch für dich, über deren Lippen hauptsächlich große Worte kommen, hinter denen wenig steckt, Provokationen, die nur wenige einschüchtern oder dumme Witze, über die kaum jemand lacht, eher die Augen rollt. Vielleicht bist du ja gar nicht die Person, die du vorgibst zu sein? Vielleicht ist das nur so eine Rolle, die du spielst, eine, die dir mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen ist, bis du ab und zu mal
out of character brichst, auch, wenn diese Situationen mit jedem Jahrzehnt, das sich auf dein Alter addiert, weniger werden. Gibt es einen Gedanken, der sich seit 519 Jahren durch dein Leben zieht - ganz gleich, ob menschlich oder nicht - ist es der, dass du nicht unbedingt sein möchtest, wer oder was du bist. Willst mehr, willst weiter, besser,
alles, aber hast keine Ahnung, was genau das eigentlich sein soll. Dich ständig zu etwas Anderem berufen zu fühlen, ist für dich fast zu einer Art von Hochleistungssport geworden.
Du hast alles im Griff. Die Überzeugung, mit der du das behauptest, ist so stählern wie die Muskeln dieser Typen aus Marvel-Filmen (deine Zeit im Norden hat sich gezogen wie Kaugummi - hast so gut wie jeden Shit gesehen, den Streamingdienste zu bieten haben - danke, 21. Jahrhundert!). Du weißt, was du tust, du kennst die Folgen von dem, was du in Bewegung setzt. Klar ist dir bewusst, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings auf der einen Seite der Welt auf der anderen einen Wirbelsturm auslösen kann -
klar hast du das im Hinterkopf bei allem, was du tust. Würdest doch nie impulsiv und immer aus Kalkül handeln und niemals wären Worte wie diese ironisch gemeint. In deiner perfekten Welt weißt du immer ganz genau, was du tust - kannst Situationen einschätzen und wirst nicht von unerwarteten Konsequenzen überrascht. Knapp über 500 Jahre Lebenszeit sind schließlich genug, um aus all’ seinen Fehlern gerlent und seine Traumata überwunden zu haben.
Klar. Und, wir erinnern uns: Hélène existiert ohnehin nicht mehr; nur noch ihr Upgrade:
Patch Notizen Version 2020 (Build 519): bis zu zwei Lagen Designerkleidung, eine Wolke aus
Chanel Mademoiselle und Haare, deren Länge alle zwei Wochen variiert. Bist bereit für das 21. Jahrhundert in der Großstadt - konntest es gar nicht erwarten, die nordeuropäische Schneelandschaft endlich hinter dir zu lassen, auch, wenn’s in den Innenstädten immer bestialischer stinkt und es Dank Smartphones und Social Media sehr viel schwieriger geworden ist, dich als Vampirin zu verhalten wie ‘ne Axt im Walde. Kannst niemandem mehr einfach so das Genick brechen, weil dich ‘ne Kleinigkeit nervt - wird jeder gleich viral vermisst heutzutage, tragisch.
Die Welt hat sich verändert, verändert sich noch immer und tut’s schneller als jemals zuvor. Musst die Möglichkeit von Gelnägeln und Haarverlängerungen dagegen eintauschen, dich ein bisschen besser zu kontrollieren - ist’s das wert? Tja, keine Ahnung, man wird’s sehen.